01.10.2017

"Es": Furcht einflößendes Déjà-vu


Stephen Kings Es ist ein sperriger, ja genau genommen unverfilmbarer Roman. Fast zwölfhundert Seiten ist er lang, hoch spannend. Durch seinen Mix der Perspektiven und die manchmal extremen Längen findet wohl jeder Leser seinen eigenen Pfad. Keiner erlebt so einen Roman ganz gleich. Es gibt Szenen, die man auch nach Jahrzehnten nicht aus dem Kopf bekommt. Und es gibt solche, bei denen man während der Neulektüre feststellt, dass man sie wohl überblättert oder nur unaufmerksam registriert hat. Dieses Unvergessene, die Lücken werden bei jedem Leser jeweils andere sein, aber jeder Leser hat sie.
Der Roman macht diese Unachtsamkeit zum großen heimlichen Thema. Wie in einem Zeitspagat erzählt er zwei parallele Geschichten und bezieht seine Wirkung aus dem, was sich zwischen ihnen entspinnt. King schreibt die Geschichte eines namenlosen Bösen, das in der Kanalisation unter der Kleinstadt Derry in Maine schlummert und alle 27 Jahre erwacht, um Kinder zu töten und sich an deren Angst zu weiden. 1958 stellen sich ihm sieben Mittelstufenfreunde entgegen, die sich der "Club der Verlierer" nennen. 1985 müssen die mittlerweile erwachsenen "Verlierer" erkennen, dass Es wieder da ist, und kehren nach Derry zurück, um das Monster endgültig zu vernichten. Weil er dieselben Figuren zweimal mit demselben Bösen konfrontiert, kann der Roman viel sagen über Trauma, Vergessen und Älterwerden.
Die Drehbuchautoren der neuen Filmfassung (darunter Cary Fukunaga, der bei der ersten Staffel von True Detective Regie führte) haben sich voll auf die kindlichen Helden konzentriert. Kings Roman gehörte den Kindern und den Erwachsenen, die aus jenen Kindern werden. Die Verfilmung des Regisseurs Andrés Muschietti gehört den Kindern. Dadurch verschiebt sich auch der Ton der Geschichte. Statt der Unbilden der Erinnerung, geht es Muschietti um die Intensität kindlicher Wahrnehmung. Statt über das Verhältnis zwischen Kindsein und Erwachsensein nachzudenken, bleiben die Eltern in seinem Film ungefähr so schemenhaft wie Väter und Mütter in Grimms Märchen. Der zweite Teil der Handlung, in dem es um die erwachsenen Kinder geht, wird nächstes Jahr zwar nachgeliefert, nachdem Es in den USA in wenigen Wochen zum finanziell erfolgreichsten Horrorfilm aller Zeiten avancierte. Aber in diesem ersten Film stehen, abgesehen von den letzten paar Minuten, allein die Kinder im Mittelpunkt.
Kino - "Es" (Trailer)
Und ihre Ängsten. Natürlich denkt bei Es jeder an Pennywise, den grell geschminkten, tanzenden Clown, diesmal gespielt von Bill Skarsgård. Pennywise ist die Lieblingsinkarnation von Es, dem Bösen, und aus gutem Grund. Der Clown ist beispiellos Furcht einflößend. Skarsgård spielt ihn mit einem halb verführerischen, halb selbstironischen Singsang, schwankt mehrmals im Satz zwischen fistelnder Komik und knurrendem Bass. Seine Bewegungen sind unbeholfen und raubtierhaft in einem. Und wenn die Clownsmaske erst einmal fällt, wird es nur noch alptraumhafter. Wer vor dem Film noch kein bisschen Coulrophobie hatte, wird nach einem einzigen Blick in den nur aus Zähnen bestehenden Rachen der Kreatur befallen sein.
Aber es wäre falsch, die Ängste, mit denen Es spielt, nur an Pennywise festzumachen. Denn eigentlich bündelt sich in dem Horrorclown nur die überall durch Derry schwappende Angst. Jeder der sieben "Verlierer" definiert sich durch Angst: Bill Denbrough stottert und gibt sich die Schuld am Tod seines kleinen Bruders. Stan Uris ist der Sohn eines Rabbis und bereitet sich eher lustlos auf sein Bar Mitzwa vor. Ben Hanscom ist fettleibig, ein Nerd und neu an der Schule. Beverly Marsh ist daheim den Zudringlichkeiten ihres Vaters ausgesetzt und bekommt zum ersten Mal ihre Periode. Eddie Kaspbrak ist klein, nervös und wird von seiner Mutter dominiert. Und Mike Hanlon, der einzige Afroamerikaner der Gruppe, wächst als Vollwaise bei seinem Großvater auf. Und alle werden sie terrorisiert von den Älteren, den Jungs aus der Highschool, die im Trans Am durch Derry kurven.
Erst allmählich merken die sieben Außenseiter, dass neben, unter oder vielleicht doch in dieser Topografie des Alltagshorrors namens Kindheit, wo die Orte des Schreckens Klo, Keller und Gully heißen, noch etwas lauert, etwas das sie Es nennen. Hier bleibt Muschiettis Film Kings Roman treu: Pennywise verkörpert weder die Alltagsangst, noch ist er ihr irgendwie vorgeordnet. Warum auch? Was macht es in der kindlichen Phänomenologie für einen Unterschied, ob um die Ecke ein Clown mit dreireihigen Zähnen wartet oder drei Teenager, die den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun haben, als dich zu vermöbeln?
Der Film bezieht eine gehörige Portion schwarzen Humors aus dem enormen Personalverschleiß der Kleinstadt, den die Erwachsenen einfach hinzunehmen scheinen. Sie hängen im Bildhintergrund neue Vermisstenmeldungen auf, verhängen Ausgangssperren, halten Standpauken. Über die gruseligen Ruinen und die unverhältnismäßig gigantische Kanalisation unter ihrer kleinen Stadt scheinen sie sich keine Gedanken zu machen. Erst Neuzugang Ben spricht es aus: "Derry ist nicht so wie andere Orte." Die Geschichte des Ortes besteht fast vollständig aus grotesken Unfällen und unerklärlichen Tragödien. Und das Frühstücksfernsehen, das auf allen Fernsehern zu laufen scheint, empfiehlt dazu den Besuch der Kanalisation, am besten mit Freunden.


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