Politologe über „Degrowth“-Konzept
„Von Fixierung auf Wachstum lösen“
Die Degrowth-Bewegung diskutiert, wie eine
Post-Wachstums-Ära aussehen kann. Effizienz reiche nicht, sagt der
Politologe Norbert Nicoll.
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taz: Herr Nicoll, Sie fordern, die Politik müsse sich vom Ziel des Wachstums verabschieden. Welche neuen Ziele braucht sie denn?
Norbert Nicoll:
Die Politik sollte sich von der Fixierung auf das Wachstum lösen und am
besten direkt bei den Stoffströmen und Umweltbelastungen ansetzen. Wir
müssen runter mit den Emissionen, wir brauchen neue Instrumente, um
Wohlstand zu messen, und wir müssen auf Waren und Dienstleistungen
Preise vergeben, die in sozialer und ökologischer Hinsicht ehrlich sind.
Nehmen wir den Verkehr: Fliegen ist zu billig,
der öffentliche Verkehr dagegen oft zu teuer. Gegensteuern ließe sich
mit Kerosinsteuern und mehr Mittel für den öffentlichen Verkehr. CO2-Emissionen
lassen sich begrenzen, indem die Politik etwa die Vorgabe macht, dass
sie jedes Jahr um 2 Prozent sinken müssen. Dann wäre man in 50 Jahren
bei Null. Der Wandel der Wirtschaft würde kommen.
Auch eine Gesellschaft ohne Wachstum wird soziale Sicherungssysteme brauchen. Wie lassen sich diese finanzieren?
Wir müssen den Naturverbrauch
verteuern, beispielsweise indem wir Ökosteuern erheben, die allerdings
sozial gerecht auszugestalten sind. Wir brauchen auf jeden Fall mehr
Umverteilung. Es gibt enorme Vermögen. Konzerne müssen Steuern zahlen.
Finanztransaktionen gehören besteuert, und Steuerparadiese müssen
geschlossen werden.
In einer Gesellschaft ohne Wachstum zahlen Konzerne oder Banken kaum noch Steuern.
Es wird Branchen geben, die noch
wachsen und auch Gewinne machen. Alles, was mit Energieerzeugung zu tun
hat, mit Pflege, Bildung, Gesundheit, demografischem Wandel, Recycling,
Effizienz – das sind Bereiche mit guten Zukunftsaussichten.
Die Bereiche Soziales, Bildung und Kultur werden nach
dem heutigen Modell durch Steuereinnahmen und Renten finanziert, die
durch die Produktivität unserer Wirtschaft entstehen. Woher nimmt man
das Geld, wenn die Industrie schrumpft?
Da gibt es verschiedene Konzepte.
Man muss aber ehrlich sein: Die Degrowth-Bewegung hat ein Endziel vor
Augen, der genaue Weg dahin bleibt jedoch oft schwammig. Wirtschaft und
Gesellschaft sind komplex. Den Stein der Weisen hat noch niemand
gefunden.
Welche Rolle können Technologien wie die Biotechnologie oder die Digitalisierung spielen?
In einigen Technologien liegen
sicherlich Potenziale, die Wirtschaft besser und gerechter zu machen.
Das ist aber kein Selbstläufer, sondern muss auf jeden Fall durch den
Gesetzgeber gesteuert werden.
Die Fraunhofer-Gesellschaft hat vor gut einem Monat ein Konzept vorgestellt, das sie „biologische Transformation“ nennt
. Damit strebt sie Ziele wie Nachhaltigkeit oder eine
Dezentralisierung der Produktion an – und will dafür Mittel der Technik
einsetzen. Was halten Sie denn von diesem Ansatz?
Ich bin da skeptisch. Ich kann
zwar nicht in die Zukunft blicken, aber ein Blick zurück in die
Geschichte zeigt: Durch Technik sind oft Probleme entstanden, die
Forscher vorher nicht gesehen haben. Zudem laufen die Kurven von
Wirtschaftsleistung, Emissionen und Energieverbrauch fast parallel. Man
hat die notwendige Entkopplung auf globaler Ebene trotz aller
Effizienzbemühungen und neuer Technik in der Vergangenheit nicht
geschafft.
Es ist interessant, dass sowohl Sie als auch die
Forscher des Fraunhofer-Instituts Nachhaltigkeit und Dezentralisierung
anstreben, trotzdem aber überhaupt nichts voneinander wissen wollen.
In der Tat laufen da zwei
Debatten nebeneinander her, die total unverbunden sind. Da haben wir zum
einen die Effizienzdebatte, die vor allem auf technologischen
Fortschritt setzt und in Wirtschaft und Politik dominant ist. Sie passt
sehr gut zur herrschenden Kultur und zum herrschenden ökonomischen
Dogma. Was die Verfechter des Postwachstums sagen, steht dagegen quer
zum herrschenden Modell. Beide Seiten stehen sich derzeit sprachlos
gegenüber. Dabei ist klar: Mit Effizienz allein kommen wir nicht weiter,
wir brauchen mehr Strategien, etwa die Konsistenzstrategie, das heißt,
wir müssen in Kreisläufen wirtschaften; die Suffizienzstrategie, also
das Leben im rechten Maß, sowie Resilienzstrategien, die uns weniger
anfällig gegenüber Krisen und Schocks machen. Wir brauchen alle, eine
Strategie allein wird nicht reichen."