28.02.2020

"Never Rarely Sometimes Always": Ein Alltagsdrama, das ins Herz trifft



Wie einfach es doch aussehen kann, einen großen Film zu machen. Eine 17-Jährige irgendwo in Pennsylvania wird schwanger und will abtreiben. Da das in ihrem Bundesstaat nur mit Zustimmung der Eltern möglich ist und eine solche Diskussion ganz sicher unmöglich ist, bricht Autumn (Sidney Flanigan) nach New York auf. Dort gibt es Kliniken, die den Eingriff nur auf Wunsch der Schwangeren durchführen. Wenigstens ihre Cousine Skylar (Talia Ryder) steht Autumn auf dieser Reise zur Seite.
Die US-amerikanische Filmemacherin Eliza Hittman erzählt in Never Rarely Sometimes Always eigentlich eine schlichte Geschichte. Es passiert auch im Laufe der knapp zwei Tage in New York nichts Skurriles oder Außergewöhnliches. Weder erzählerisch noch cinematografisch. "Ein Alltagsdrama" nennt Hittman ihren Film. Es trifft mitten ins Herz.
Da ist zunächst das Thema. Die Idee dazu kam Hittman 2012. Damals las sie von Savita Halappanavar, der in Irland nach einer unvollständigen Fehlgeburt eine Abtreibung verweigert wurde und die daraufhin an einer Blutvergiftung starb. In Irland, erfuhr Hittman, reisten Frauen, die abtreiben wollten, für einen Tag nach London. Die Filmemacherin fragte sich, wie eine solche Reise wohl aussähe, und recherchierte, dass in ihrer Heimat, den USA, jede fünfte Frau mehr als 50 Meilen fahren muss, um einen solchen Eingriff vornehmen zu lassen. In ländlichen Gegenden ist es sogar mehr als die Hälfte aller ungewollt Schwangeren. Autumn ist eine von ihnen.
Die Hauptdarstellerin Sidney Flanigan war eigentlich gar keine Schauspielerin, sondern lebte bis zu den Dreharbeiten als Musikerin in Buffalo. Never Rarely Sometimes Always ist ihr erster Film. Mit ihrem klaren verschlossenen Gesicht erinnert sie ein wenig an die junge Saoirse Ronan. In manchen Einstellungen sieht sie – blass, dunkelhaarig, in sich gekehrt – wie eine mittelalterliche Madonna aus. Etwas Unberührbares umgibt sie.
Umso intensiver gerät die zentrale Szene. Da hat Autumn es endlich in die Abtreibungsklinik geschafft. Eine Sozialarbeiterin geht zur Vorbereitung des Eingriffs mit ihr einen Fragebogen durch: "Ich sehe hier, dass Sie von weit her kommen. Wissen Sie, wo Sie heute Nacht schlafen können?" – "Haben Sie jemanden, der bei Ihnen ist?" Hittman lässt die Fragen von einer echten Sozialarbeiterin stellen. Ihre Stimme in dem winzigen sterilen Raum ist warm und leise. Sie gibt Autumn immer ein paar Augenblicke Zeit, um zu antworten – oder einer ihrer knappen Antworten womöglich doch noch etwas hinzuzufügen.
"Wann hatten Sie das erste Mal Sex?" – "Wie viele Partner hatten Sie im vergangenen Jahr?" Es sind sehr intime Fragen, die Autumn beantwortet. Und während die Kamera zunächst noch mit Schnitt und Gegenschnitt arbeitet, fokussiert sie sich im Laufe der Szene immer stärker auf Autumn. Ihr Gesicht füllt minutenlang die Leinwand in Nahaufnahme. "War Ihr Partner Ihnen gegenüber schon einmal gewalttätig?" – "Wurden Sie jemals zum Sex gezwungen?" Autumn beantwortet auch diese Fragen mit einer der vorgeschlagenen Antworten: "niemals", "selten", "manchmal", "immer".
Die titelgebende Szene ist das Herzstück des Films, und was Flanigan darin leistet, ist einzigartig. Ihr ruhiges Gesicht scheint sich langsam aufzulösen, ihr Kopf sinkt ein wenig zur Seite, sie senkt die Augen und irgendwann wischt sie sich die Tränen ab. Nur hinzufügen wird sie nichts mehr. So wenig wie Autumn in dieser Szene verrät uns Hittman in ihrem gesamten Film etwas von den Geschichten, die hinter diesen Antworten stehen. Die werden sich erst in den Stunden und Tagen danach im Kopf der Zuschauerin entfalten.


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